Zum Thema Postraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Traumatherapie:
Rettungsanker für Hoffnungslose
Traumatherapeuten helfen Unglücksopfern, Kriegsleidenden
und anderen seelisch Betroffenen aus ihrem emotionalen Leid
(Süddeutsche Zeitung, 19.11.2000)
Eine Schulklasse muss hilflos zusehen, wie ein Mitschüler die Lehrerin ersticht:
Dreißig Schüler sind wie versteinert, leiden an Schuldgefühlen und
Angstzuständen. Bei einem Flugzeugunglück sterben 70 Menschen: Die Überlebenden
können die Bilder des Schreckens nicht mehr vergessen. Ein ICE entgleist bei 200
Stundenkilometern,
100 Tote sind bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt: Helfer, Überlebende und
Angehörige sind schwer traumatisiert.
Für Beteiligte an Überfällen, Geiselnahmen, Unfällen oder Vergewaltigungen ist
die Welt von einer Sekunde auf die andere nicht mehr in Ordnung. Viele leiden an
Albträumen, emotionaler Taubheit, Angstzuständen, Übererregung und
Schreckhaftigkeit - sie vermeiden alles, was sie an das Trauma erinnern könnte.
Noch vor fünfzehn Jahren hat sich niemand professionell um sie gekümmert. Nur
körperliche Verletzungen wurden behandelt. Die psychisch Verwundeten blieben
allein. "Wem in dieser Situation nicht geholfen wird, der entwickelt später oft
schwere Störungen. Manche Opfer sind suizidgefährdet. Das muss man sofort
erkennen," sagt Georg Pieper. Der Kinder-Psychiater war einer der ersten, der
sich psychisch Verunglückter annahm.
Vor zwölf Jahren, als die "Traumatherapie" in Deutschland noch nahezu unbe-
kannt war, betreute der Psychologe die Angehörigen der Opfer des Grubenunglücks
in Borken. Es waren über fünfzig Tote. Die Familien konnten den Tod nicht
verarbeiten. Sie hatten das Gefühl, sich nicht verabschiedet zu haben."
Ratschläge besorgte sich Pieper in den USA und Skandinavien: In Deutschland
wusste man nicht, wie man Traumatisierte behandelt." Heute wird Pieper bei allen
größeren Unglücken in Deutschland als Berater herangezogen: Der Marburger half
den Überlebenden der Flugzeugkatastrophe in Ramstein, kümmert sich mit seinen
Kollegen um die Beteiligten des ICE-Unfalls von Eschede und therapiert derzeit
die Meißener Schulklasse, vor deren Augen ein Mitschüler die Lehrerin erstach.
Auch viele andere Psychologen und Ärzte haben sich in den letzten Jahren auf die
Behandlung Traumatisierter spezialisiert. Universitäten haben Lehrstühle für
Traumatherapie eingerichtet.
Besonderer Beistand in den ersten vier Wochen
Etwa vierzig Prozent aller Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit einem
traumatischen Ereignis konfrontiert. Bei vielen gehen die Symptome von allein
weg, andere brauchen Hilfe. Ein Viertel von ihnen entwickelt die Symptome einer
Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die noch nach Wochen, Monaten oder
gar Jahren Leiden verursacht. Die meisten flüchten sich in Alkohol oder werden
depressiv. Bevor 1980 die amerikanische Psychiatervereinigung die PTBS in ihr
Diagnose-Schema aufnahm, litten viele Traumatisierte unter entwürdigenden
Fehldiagnosen: Bis in die 60er Jahre wurden seelische Störungen von KZ-Opfern in
kaum einem psychiatrischen Gutachten anerkannt. Ein Umdenken setzte in den USA
nach dem Vietnam-Krieg ein, als die Soldaten ein Recht auf die Behandlung
seelischer Kriegsfolgen bekamen.
"Akuttrauma" nennt sich die Phase der ersten vier Wochen nach einem schlimmen
Vorfall, bei dem die Opfer besonderen Beistand brauchen. Das wichtigste sei es,
so Pieper, den Opfern zu vermitteln, dass ihre Reaktion ganz normal ist.
Unnormal ist die Situation, mit der sie nicht fertig werden. Diese Menschen
kommen mit ihrem Leben nicht mehr klar, können nicht mehr essen, schlafen,
lieben. Sie stehen an einem Abgrund." Akut Traumatisierte würden nicht
therapiert, sondern nur betreut. "Früher haben das oft Notfallseelsorger
erledigt, allerdings nicht sehr professionell."
Der deutsche Psychotherapeuten-Verband beobachtet die Trauma-Therapie mit großer
Aufmerksamkeit. "Der Trauma Markt boomt", sagt Pressesprecherin Karin Flamm.
Etwa 300 Spezialisten für Akut-Traumata gebe es in Deutschland, schätzt sie. An
der Wirksamkeit der Trauma-Hilfe zweifle keiner: "Früher grübelte man viel über
die Schwächen in der Kindheit. Heute ist das Trauma eine der häufigsten
Diagnosen bei psychischen Auffälligkeiten", sagt Flamm.
Vier von fünf akut Traumatisierten ist nach wenigen Wochen geholfen. Wer nach
Monaten oder gar Jahren noch nicht über ein Ereignis hinweggekommen ist, leidet
unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einem Drittel der Schüler
von Meißen diagnostizierte Psychologe Pieper eine schwere PTBS, der Rest ist
mittel oder leicht betroffen: Sie leiden an Flash-Backs, also an immer
wiederkehrenden Bildern des Mordes, sie haben Albträume, Panikattacken und
Schlafstörungen.
Man kann nicht so weiterleben, als sei nichts gewesen
In Gesprächen lernen die Jugendlichen, das Trauma in ihr Leben zu integrieren.
"Man kann nicht so weiterleben, als wäre nichts gewesen. Der Vorfall ist nun ein
Teil der Biografie", sagt der Therapeut. Im Idealfall betrachtet man das Trauma
als Chance, das Leben mit neuen Augen zu sehen. Pieper wendet eine Methode an,
die in Deutschland noch wenig verbreitet ist: Das Eye Movement Desensitiziation
and Reprocessing (EMDR), bei dem der Patient mit den Augen den schnellen
Fingerbewegungen des Therapeuten folgt, während er sich das traumatisierende
Ereignis vergegenwärtigt. Nach empirischen Studien kommt es dabei zu einer
Auflösung belastender Gedanken. "Bei einigen Leuten funktioniert das sehr gut,
andere sprechen gar nicht darauf an." Jetzt, nach einem Jahr wird Pieper die
Therapie der Schüler beenden: "Die meisten kommen gut klar, was aber nicht
heißt, dass sie es vergessen haben."
Diagnose und Therapie posttraumatischer Störungen
An Universitäten und privaten Instituten können sich Ärzte und Psychologen zu
Trauma-Spezialisten schulen lassen. "Trauma-Therapeut" ist allerdings keine
geschützte Berufsbezeichnung - jeder kann sich so nennen. Was man in der
Ausbildung lernt? Neben den Techniken der EMDR lernt man vor allem, sensibel zu
sein für die jeweilige Phase, in der sich der Betroffene befindet. "Eine falsche
Intervention kann die Therapie kippen: Wenn ich einen U-Bahnfahrer nach einem
Unglück zu früh wieder hinter das Steuer setze, kann ihn das unglaublich
verunsichern," sagt Regina Thierbach. Sie therapiert PTBS-Traumatisierte am
Institut für Traumatherapie an der Universität München (MIT). Erst müsse der
Traumatisierte stabilisiert werden, dann werde er mit den Geschehnissen
konfrontiert, und schließlich werde - im Idealfall - das Trauma ins persönliche
Leben integriert. Am MIT werden an jeweils drei Wochenenden zwölf Teilnehmer mit
den Methoden der Traumatherapie vertraut gemacht. In Rollenspielen,
Videoanalysen und praktischen Übungen lernen sie, posttraumatische
Belastungsstörungen zu diagnostizieren und zu therapieren.
Die Teilnehmer sollten mit den Methoden der Verhaltenstherapie vertraut sein.
Besonders spezialisiert haben sich die Münchner auf Kriegstraumatisierte
regelmäßig besuchen die Therapeuten den Partner-Lehrstuhl an der Universität
Sarajewo, wo es fast niemanden gibt, der nicht traumatisiert ist.
Auch Laien profitieren von den neuen Methoden der Traumatherapie: In vielen
Städten entstanden psychologische Notfalldienste wie in München die
Krisenintervention im Rettungsdienst (KIT), deren ehrenamtliche Mitarbeiter sich
nach Unfällen um die seelisch Verletzten kümmein: um den U-Bahnfahrer, vor
dessen Zug sich ein Selbstmörder geworfen hat, um die Bankangestellte, die
überfallen wurde, um den Feuerwehrmann, der die Leichenteile eines Unfalls
einsammeln musste. "Wir stehen den akut Traumatisierten in den ersten Stunden
bei," sagt Harald Rank vom KIT.
Wer von Berufs wegen gefährdet ist, einmal Opfer einer Gewalttat zu werden, kann
sich beim Pecon-Institut vom Psychologen Werner Wild schulen lassen:
Bankangestellte, Polizisten oder Feuerwehrleute lernen in Seminaren, mit welchen
psychischen Veränderungen sie rechnen müssen und wer ihnen im Ernstfall helfen
kann. Finanziert werden die Kurse und Betreuungen von den Firmen. "Früher wollte
man kein Geld für die psychologische Schulung und Betreuung von Mitarbeitern
ausgeben," sagt Wild, "heute weiß man, dass es ziemlich teuer werden kann, wenn
eine Bankangestellte sich nach einem Überfall ein halbes Jahr lang nicht mehr an
ihren Arbeitsplatz wagt."
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